Freitag, 18. November 2016

Alles hat seine Zeit.



Du hinterlässt Tränen und Gelächter, Trauer und Tanz, fassungsloses Schweigen und Redeflüsse, Liebe und Hass, Streit und Friede, Unverständnis und Seelenfrieden.
Du bist erlöst, Ruhe in Frieden mein Kind.  

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
 klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in sein Herz gelegt, nur dass der Mensch nicht Gottes Werk ergründen kann, weder Anfang noch Ende.
Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.


Was ist eigentlich passiert? Alles sah doch so gut aus, nach 6 Jahren ohne Krebs....
Joel hatte seit Weihnachten 2015 Probleme mit der Motorik in der rechten Hand, litt unter Kopfschmerzen und Erbrechen. Am 2. Weihnachtsfeiertag bin ich mit ihm in die Klinik gefahren, der diensthabende Arzt schicke uns mit Tabletten gegen Kopfschmerzen und Übelkeit nach Hause. Es wurde nicht besser. 
Am 4. Januar bin ich wieder mit ihm in die Klinik gefahren, diesmal hat seine zuständige Ärztin ein MRT mit Kontrastmittel angeordnet. Die Bilder waren schockierend: Ein 5cm großer Hirntumor war zu sehen. Drei Tage später, an seinem Geburtstag, wurde er operiert. Die Operation verlief unkompliziert, jedoch konnte der Tumor nicht komplett entfernt werden ohne Spachstörungen oder Motorikausfälle zu riskieren. Dann musten wir 4 Wochen auf die Biopsieergebnisse warten. 
Diagnose: Glioblastom multifome. 
Ein 100%iges Todesurteil. Die Frage war nur wann. Man rechnet mit einem Jahr, vielleicht auch mehr. "Auf jeden Fall nochmal Weihnachten!", so hofften wir.
Joel schrieb an diesem Tag eine "To-do-before-death" Liste. Wir lachten und wir weinten, wir hofften und diskutierten alles mögliche und unmögliche.
 
 Ein weiteres MRT Anfang Februar kurz nach der Diagnose war ebenso schockierend wie das erste: Der Tumor war innerhalb von 4 Wochen fast wieder auf 5cm nachgewachsen. Zwei Tage später folgte eine weitere Operation, wir wollten Zeit gewinnen um jeden Preis! Mit einer ganz klaren Ansage der Ärzte das sie radikal operieren müssen und wir Sprachstörungen und/oder Lähmungserscheinungen in Kauf nehmen müssen, versuchten wir unser Glück. Auch diese Operation verlief ohne Komplikationen, der Tumor konnte jedoch auch diesmal nicht komplett entfernt werden. Wieder blieben zwei kleine Stücke übrig. Wieder riesiges Glück im Unglück gehabt, denn auch hier gab es keine Sprach- oder Motorikprobleme.
Es gibt keine Heilung für diese Art von Krebs, alles was man tut, tut man um Zeit zu gewinnen. Es gibt die Möglichkeit zu Bestrahlen und/oder Chemo in Tablettenform zu erhalten. Alles soll den Wachstum des Krebses aufhalten.
Nach weiteren zwei Wochen begannen wir mit einer Bestrahlung. Auch hier gab es keinerlei Komplikationen. Wir mussten 6 Wochen lang von Montag bis Freitag in die Klinik fahren.

Danach das nächste MRT, zum ersten Mal mit guten Nachrichten: Der kleinere Tumor sei komplett weg, der grössere sei deutlich geschrumpft. 

Dann waren wir erstmal Urlaubsreif. 10 Tage auf Fuerteventura mit Sonne, Sommer, Pool und vieeel gutem Essen. Vielen Dank Herzenswünsche.e.V. für alles!!!

Nach dem Urlaub ging Joel wieder zur Schule, gleich am zweiten Tag hatte er einen Krampfanfall. 
Kurz darauf das nächste MRT. Man kann garnicht so viel essen wie man kotzen möchte, wenn man auch ohne Erklärungen der Ärzte sieht das aus Weihnachten 2016 sicherlich nichts wird. 
Die Ärzte sagten uns das die Chemo nichts bringen würde, der Tumor sei selbst für die Art von Krebs enorm schnellwachsend und aggressiv. 

Was tut man dann? Man schmeisst alle Verpflichtungen hin und tut nur noch was dem Patienten Spass macht und er erleben möchte. Man macht unmögliche Dinge irgendwie möglich. 
Joel war es in dieser Zeit wichtig zu Erfahren was er hätte werden können und hatte einige "Aushilfsjobs": Als Strassenbahnfahrer, als Zugfahrer, als Lehrer.

In den Wochen nach dem Urlaub wurde die rechte Hand zunehmen lahmer, dann der Unterarm, schliesslich fing er an zu humpeln. Es war schrecklich zu sehen wie schnell sein Zerfall fortschritt. Immer häufiger und heftiger wurden die Kopfschmerzen. Irgendwann gehörte Morphin zur Dauermedikation. Wenn er heftige Tiefs hatte konnte Kortison ihn wieder für ein bis zwei Tage auf die Beine bringen, aber irgendwann wirkte auch das nicht mehr. 

Kurz vor den Sommerferien bat er mich seine Freunde und Familie einzuladen damit er sich verabschieden könne. Zu diesem Zeitpunkt ging es ihm noch relativ gut. Es folgten zwei Wochen voller Besuch, eine sehr intensive Zeit, voller Tränen, voller Freude. Abschied eben... Diesen Wunsch äusserte er in den folgenden Wochen noch zwei weitere male, bis wir ihm sagten das wir der Meinungen seien das es keinen Sinn macht sich ein viertes mal von allen zu verabschieden, da war er (aus heutiger Sicht betrachtet) dem Tode schon näher als dem Leben. Von da an wollte er keinen Besuch mehr haben.

Wir haben das Thema Tod und Sterben stets sehr offen kommuniziert. Joel hatte klare Vorstellungen und Wünsche vom Sterben, und er glaubte fest an ein Leben nach dem Tod.
Wir hatten Angst ihn abends ins Bett zu bringen weil wir nicht wussten ob er morgens tot im Bett liegt. Eine schreckliche Vorstellung! Er wollte nicht alleine sterben, ich wollte auch nicht das er alleine stirbt.

Die letzten Tage vor seinem Tod ging es ihm aus meiner Sicht sehr schlecht, ich glaube er selber fand alles nicht so schlimm. Zumindest sagte er das immer wieder. Er hatte keine Schmerzen mehr (Der Himmel weiss warum, aber wir konnten das Morphin absetzen), aber ein im Sterben liegendes Kind ist trotzdem kein angenehmer und leichter Anblick. Am 1.September schloss er um 10 Uhr morgens in meinen Armen für immer seine Augen. 

Sein Kind im Sterben zu begleiten und danach die Trauer zu bewältigen ist eine wahnsinnige Herausforderung. Das schwierigste ist wohl der Spagat zwischen dem Wissen um seine Erlösung und der Tatsache das man ihn schrecklich vermisst. 
Dann fragt man sich natürlich ob und was man noch hätte anders machen können.
Und letztlich: Auch in der Trauer kann man lachen, aber man fragt sich ob der Schatten im Herzen wohl auch seine Zeit hat?